Aus dem Kriegstagebuch der deutschen Admiralität, 1943,
2. Dienstag im Mai:
Unterseeboot U 528 setzt um 11:58 Uhr eine Meldung ab: Sind tauchunklar, erbitten sofortige Hilfe. Position: BE 6520, das ist entschlüsselt: Biskaya, südwestlich von Irland. Es sollte die letzte Meldung sein. Geoffrey Jones, ein englischer Autor, hat das Ende festgehalten. Ein Flugzeug, Typ Halifax, erspäht das Boot, geht in den Sturzflug, U 528 versucht zu tauchen, es gelingt nur halb. Die Halifax wirft Wasserbomben großer Sprengkraft, setzt Markierungen, fliegt wieder zum eigenen Geleitzug zurück. U 528 ist schwer beschädigt, kann aber noch tauchen. Jetzt greift die Fleetwood an. Die Fleetwood, ein kleines schnelles Kriegsschiff, eine Fregatte, jagt das Boot, wirft große Mengen Wasserbomben; riesige Luftblasen steigen empor, Öllachen bilden sich, das U-Boot taucht auf, wird mit Kanonen beschossen — und dann versinkt U 528 für immer bei 47 Grad Nord, 14 Grad West, reißt Männer der Besatzung mit hinunter, 4000 m ist der Atlantik dort tief.
Es ist der 11. Mai 1943, zwischen 15:00 und 16:00 Uhr. 55 Jahre ist das her, auf den Tag genau und fast auf die Stunde.
Im Mai 1943 — Geoffrey Jones nennt ihn Monat der verlorenen U-Boote — werden 41 Boote versenkt; kein Zufall, der geheime U-Boot-Code war längst dechiffriert, alle Bewegungen deutscher U-Boote über Radar geortet worden. Militärisch und militärtechnisch gesehen war der Krieg für Deutschland schon Ende 1942 verloren. Hohe deutsche Militärs wußten darum. Aber Millionen von Soldaten wurden noch geopfert, die Blüte einer Nation hingegeben für nichts. Allein 760 U-Boote sind versenkt worden; 29 000 junge Männer, die meisten um die 20 Jahre alt, haben die 760 Särge aus Stahl auf den Grund der Weltmeere mitgenommen. 29 000, im Ozean lebendig begraben, 29 000 Tragödien. Niemand spricht mehr davon, es gehört sich nicht. Ein schlechtes Zeichen für dieses Land.
Bei U 528 gelingt einigen Männern, den sicheren Tod vor Augen, der Ausstieg aus dem sinkenden Schiff in letzter Sekunde. Zwei Kriegsschiffe, die Fleetwood und die Mignonette nehmen sie auf. Die Männer dürfen noch einmal in das Leben zurück. Unter den Geretteten der junge Schiffsingenieur Reimar Lüst. Der 11. Mai, es wird sein „anderer“ Geburtstag. Lüst gerät in englisch/amerikanische Kriegsgefangenschaft, wahrscheinlich das beste, was einem jungen Deutschen damals überhaupt passieren konnte.
Er wird in ein Kriegsgefangenenlager nach Texas verlegt, hilft dort beim Aufbau einer Lageruniversität. Schiffsbauer wollte er nach seinem Abitur 1941 werden, jetzt beschäftigt ihn die Naturwissenschaft. Ein Assistent (auch er kriegsgefangen) des Frankfurter Mathematikers Madelung bringt ihm die Mathematik nahe. Nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft studiert Lüst in Frankfurt bei Madelung und anderen, erwirbt 1949 das Diplom in Physik; später geht er nach Göttingen zu Carl Friedrich von Weizsäcker.
Von Weizsäcker: ……Ich nötigte ihn über das Planetensystem zu arbeiten, er sollte den Drehimpulstransport berechnen, dessen Ausrechnung mir zu schwer gewesen war……. Lüst reüssiert 1951 mit der Dissertation „Die Entwicklung einer um einen Zentralkörper rotierenden Gasmasse“. Für unser Sonnensystem lag das freilich Milliarden von Jahren zurück. Und vielleicht hätte Lüst doch lieber etwas anderes gemacht. Von Weizsäcker: ……Lüst aber verließ die Spekulation über eine ferne Vergangenheit und studierte empirisch prüfbare Eigenschaften des heutigen Gases im Planetensystem. So kam er zur extraterrestrischen Physik. ……
In den Jahren 1951 bis 1959 war Reimar Lüst am Göttinger Max-Planck-Institut für Physik in theoretischer Plasmaphysik tätig. Mit seinen Kollegen Arnulf Schlüter, K. Hein und L. Davis arbeitete er über Stoßwellen im Plasma, axialsymmetrische Plasmakonfigurationen mit Oberflächenströmen, über die Bewegung geladener Teilchen in Magnetfeldern. Er war Fullbright-Stipendiat am Enrico Fermi-Institut in Chicago, war in Princeton und am Courant-Institut für Angewandte Mathematik in New York. Bei Courant war er Gastprofessor für „Mathematik“, Astrophysikalische Themen interessieren ihn, mit Biermann arbeitete er über Kometen, über die Sonne, ihre Korona. 1961 habilitierte er sich in theoretischer Physik an der Universität München. Er wird wissenschaftliches Mitglied des Münchner Max-Planck-Instituts für Physik und Astrophysik, ist Gastprofessor an der Technischen Hochschule von Massachusetts, dem MIT, und der Technischen Hochschule in Pasadena, genannt CAL-Tech.
Um 1960 beschlossen Biermann, Heisenberg und der damalige Minister Siegfried Balke, daß sich die Bundesrepublik auch an der Weltraumforschung beteiligen müsse. Reimar Lüst soll eine solche Gruppe am Max-Planck-Institut aufbauen. 1961 beginnen die Arbeiten. Wenige Jahre später wird Reimar Lüst international bekannt: Seine einzigartigen Experimente machen das Magnetfeld der Erde sichtbar.
Stufenleitern von Lüsts Laufbahn.
Er wird wissenschaftlicher Sekretär der (wissenschaftlichen) Arbeitsgruppe der europäischen Kommission für Weltraumforschung, dann der erste wissenschaftliche Direktor dieser Institution und später der ESRO, der europäischen Organisation der Weltraumforschung. 1965 wird er Honorarprofessor an der Technische Universität München, damals trug sie noch den ehrbaren Titel Technischen Hochschule. Im gleichen Jahr beruft ihn der Bundespräsident in den Wissenschaftsrat, 1969 übernimmt er den Vorsitz. 1972 wird er zum Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft gewählt. In der „Zeit“ las man dazu: ……Die Max-Planck-Gesellschaft wollte eine Wunderwaffe für schwere Zeiten finden. ……Die Zeiten in den siebziger Jahren, sie waren in der Tat schwer für die Wissenschaft. Der neue Präsident, diese unnachahmliche Mischung von Freundlichkeit und Härte, wie ihn ein Bundesminister nannte, steuert die Max-Planck-Gesellschaft zwölf Jahre lang um alle Untiefen erfolgreich herum.
Nur nebenbei: Das internationale Zentrum für Management in Lausanne, kühl bis kalt kalkulierende Leute ohne Emotionen — es geht ja auch um die Anlage von Geld — stufen die hiesige Forschung und Technologie auf Platz 3 in der Weltrangliste ein. Nach den USA und asiatischen Ländern. Kein Grund zur Selbstzufriedenheit.
1984 wird Lüst zum Generaldirektor der Europäischen Raumfahrtagentur, der ESA, gewählt. Weltraumtechnik. Ambros Speiser, angesehener Ingenieur an der ETH Zürich, nennt sie die Königsdisziplin der Ingenieure. Alle Teilgebiete der Technischen Wissenschaften werden hier bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gefordert. Die heutige Computertechnik ist ohne Weltraumtechnik undenkbar. Noch in seiner Amtszeit als ESA-Chef wird Lüst zum Präsidenten der Alexander von Humboldt – Stiftung, Deutschlands hochangesehener Institution, berufen. Was die Stiftung für das Ansehen Deutschlands im Ausland leistet, ist im Inland nur wenig bekannt. Deutsche Botschafter haben es berichtet: die Stiftung ist für Deutschland mehr wert als das viele andere, was Deutschland im Ausland sonst kulturell aufbietet. Für ihre so außerordentlich wichtigen Aufgaben kann man der Stiftung gar nicht genug Geld geben. Reimar Lüst, als kultureller Botschafter Deutschlands reist er jetzt um die Erde; aus Peru ist er gerade zurückgekehrt.
Reimar Lüst lebte und lebt für die Wissenschaft: als Theoretiker, als Experimentator, als Institutsdirektor, als Administrator, als Kapitän einer großen Forschungsorganisation, als Präsident einer berühmten Stiftung. Große Rollen, Reimar Lüst hat sie vollkommen ausgefüllt. Viele Auszeichnungen sind ihm zuteil geworden.
Reimar Lüst wurden verliehen
Der große Verdienstorden mit Stern und Schulterband des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland
Der Bayerische Verdienstorden
Der Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen
Der Adenauer-de Gaulle-Preis
Er ist Offizier der französischen Ehrenlegion
Er wurde ausgezeichnet mit der Medaille München leuchtet
Verliehen wurde ihm: das Komturkreuz vom Spanischen Orden Isabel la Católica
Er ist Träger des Bayerischen Maximiliansordens für Wissenschaft und Kunst
Und da sind noch viele andere Auszeichnungen.
Besondere Ehre wird ihm 1991 zuteil: Die Internationale Astronomische Union benennt den Asteroiden 4386 nach Lüst.
Was für ein Weg: Vom „Beinahe-Tod“ im Atlantischen Ozean über einen Weltraumsatelliten als Träger von Lüsts Experimenten bis zu diesem Stück Unsterblichkeit 4386 draußen im All, das den Namen Lüst um die Sonne trägt.
Reimar Lüst ist ein berühmter Mann. Noch viel mehr seiner Freunde und Verehrer wären heute gekommen, das festgelegte Datum, der 11. Mai, Reimar Lüsts anderer Geburtstag, machte es ihnen unmöglich. Auch Herr Ministerpräsident Stoiber wollte hier sein, in einer Ansprache die herausragenden Verdienste des Wissenschaftlers Reimar Lüst würdigen und einmal mehr die besondere, auch politische Bedeutung der Raumfahrt deutlich machen. Aber er hat heute unabänderliche Verpflichtungen zu erfüllen, Verpflichtungen, die schon lange vorher festgelegt waren, und die ihn heute von München weggeführt haben. Seine besten Wünsche begleiten das Festkolloquium, und er übermittelt Ihnen allen und ganz besonders Herrn Prof. Dr. Lüst seine herzlichen Grüße.
Reimar Lüst liebt Händels Musik.
Einst in Venedig, es war auf einem Maskenball, spielte der junge Händel Cembalo. Er ist verkleidet, niemand erkennt ihn. Der große Domenico Scarlatti hört den Cembalisten und ruft den anderen zu: Das kann nur der berühmte Sachse — il celebre sassone — sein oder der Teufel.
In Händels Oratorium Judas Maccabaeus wird der Held bei seinem Einzug in Jerusalem hymnisch gefeiert. Der Israeliten Lobgesang wurde zum großen deutschen protestantischen Kirchenlied.
Händels Musik für Reimar Lüst.