Beitrag der Natur- und Ingenieurwissenschaften zur Gesellschaft der Zukunft

Hamburg, 11. Oktober 2007

Wo steht die Wissenschaft in der öffentlichen Meinung Deutschlands?

„Wenn er einer Schauspielerin einen Orden verleiht, erzittert der ganze Saal minutenlang unter dem Blitzlichtgewitter der Fotografen der Medien; zeichnet er dagegen einen Wissenschaftler aus, bleibt es völlig ruhig, das einzige Licht im Saal ist das vom Kronleuchter an der Decke“ bemerkte vor kurzem der Ministerpräsident eines Bundeslandes nicht ohne Sarkasmus.

Kürzer und dazu so treffend kann man die medialen Befindlichkeiten und Mentalitäten dieser Republik nicht beschreiben. Wissenschaft, Naturwissenschaft und Technik spielen im öffentlichen Bewußtsein Deutschlands, gern als Land der Wissenschaft und Technik apostrophiert, eine eher marginale Rolle. Berichte, häufig im Feuilleton, sind nicht selten pejorativ, negativ besetzt, mit Ausnahmen, wenn es um neue Automodelle geht, oder Nobelpreise, oder ein deutscher Astronaut gerade um die Erde unterwegs ist. Es gibt keinen Grund, es schönzureden.

Aus einem Zeitungsartikel zum Kolumbusjahr: Das von den Spaniern nach Europa gebrachte Silber [das versklavte Indios aus dem Silberberg bei Potosí (Bolivien) kratzen mußten] wurde die Grundlage … der industriellen Entwicklung Deutschlands.

In einer Fachzeitschrift für Theologie liest man: … Die Tochter der Wissenschaft, die Technik, hat Maschinen hervorgebracht, die über die wehrlose Erde herfallen und zerstören, was uns der Schöpfer zur Hege und Pflege geschenkt hat. …

Zwei Historiker fordern in ihrem Buch „Verteidigung des historischen Interesses“ für die Leidenschaft an der Historie die gleiche (gesellschaftliche) Toleranz wie für andere nutzlose Beschäftigungen in unserer Zeit, wie Kunst, Philosophie, Poesie und … Mathematik. Mathematik hier auch als Synonym für Naturwissenschaften gebraucht.

Ebenso äußert sich eine gefeierte Geigenvirtuosin, sie hält Mathematik im Schulunterricht für weit überschätzt und überflüssig.

Ein junger Russe mosaischen Glaubens, sprachenkundig, mußte noch einmal auf ein deutsches Gymnasium gehen, dort das Abitur nachholen, sein russisches Reifezeugnis wurde nicht anerkannt. Der junge Russe: „Meine Mitschüler kamen mir extrem dumm und ungebildet vor. Der Bildungsstandard in Naturwissenschaften und Mathematik war sehr niedrig.“

Es wird leider wahr sein; und die Unkenntnis hat Folgen. Die wenigen deutschen Abiturienten, die ein technisches Fach studieren wollen, müssen sich nicht selten Vorwürfen ihrer Schulfreunde aussetzen, sie würden später an der Zerstörung der Umwelt mitwirken.

Beitrag der Natur- und Ingenieurwissenschaften zur Gesellschaft der Zukunft in Deutschland?

Zukunft hat eine lange Vergangenheit, lehrt uralte rabbinische Weisheit.

Der Blick zurück mag helfen, das richtige für die Zukunft zu tun, der Blick in die Romantik und die Zeit danach, die dem Bewußtsein der Deutschen längst entschwunden ist.

1840. Im Deutschen Bund beginnt das industrielle Zeitalter; vorher die Idylle und die Windmühle, dieses Symbol der Romantik. Der Sündenfall setzt ein, so jedenfalls wollen das nicht wenige glauben machen und berufen sich auf Goethe als Zeugen: … das überhandnehmende Maschinenwesen wälzt sich wie ein Gewitter langsam, quälend und ängstigend heran – und es wird treffen! … Prophetische Hellsichtigkeit Goethes wurde gesagt. Dagegen Februar 1827, Goethe spricht, Eckermann notiert: … Dieses möchte ich erleben; aber ich werde es nicht. … eine Verbindung der Donau mit dem Rhein hergestellt zu sehen. Aber dieses Unternehmen ist … so riesenhaft, daß ich an der Ausführung zweifle, zumal in Erwägung unserer deutschen Mittel. … es wäre wohl der Mühe wert, ihnen zu Liebe es noch einige funfzig Jahre auszuhalten. …

Das kann Goethe so nicht gesagt haben, wird geäußert. Eckermann hätte sich das alles ausgedacht. Doch Goethe war durch Alexander von Humboldt zu solchen Betrachtungen angeregt worden. Goethe hat Humboldt verehrt, Goethe im Dezember 1826: Alexander von Humboldt ist … bei mir gewesen … er hat an Kenntnissen und lebendigem Wissen nicht seinesgleichen. … er ist überall zu Hause und überschüttet uns mit geistigen Schätzen. Er wird einige Tage hierbleiben, und ich fühle schon, es wird mir sein, als hätte ich Jahre verlebt! …

1840. Auf dem Gebiete des Deutschen Bundes leben die Leute in großer Armut und statt so, wie es das hübsche Bild Ludwig Richters zeigt, sah es im Hause so aus. Nach zweihundert Jahren waren die Wunden des Dreißigjährigen Krieges immer noch nicht verheilt. Goethe, an seiner Iphigenie arbeitend, 1779 aus Apolda an Frau von Stein: Hier will das Drama gar nicht fort; es ist verflucht; der König von Tauris soll reden, als wenn kein Strumpfwirker in Apolda hungerte.

Die meisten Leute fristeten, auf den Ertrag kümmerlicher Böden angewiesen, vom Klima benachteiligt, ein armseliges Leben. Die Lebenserwartung war extrem kurz, weit unter 40 Jahren. Einer hauchdünnen Schicht aus dem gehobenen Bürgertum und dem Adel ging es besser. Aber selbst da möge man sich nichts vormachen: Goethes Haus am Frauenplan in Weimar, ein Geschenk des Großherzogs: die eigentlichen Wohnräume erreichen nicht einmal den untersten Standard einer Sozialwohnung von heute. Die Speisenfolge an Goethes Mittagstafel: jede anständig geführte Betriebskantine hat heute weitaus besseres für ihre Arbeiter zu bieten. Goethes Reise nach Italien: kein Mensch würde sich heute in diese elende Kutsche setzen. Und teuer waren diese Reisen dazu. Eine Fahrt vom Norden in den Süden Deutschlands kostete leicht den halben Jahresverdienst eines Handwerksgesellen. Der junge Heinrich Heine besucht den sechzigjährigen Goethe und findet einen zahnlosen Greis vor. – Goethe, warum immer nur Goethe? Sein Leben ist genau dokumentiert und er, der entpflichtete Minister, war hochprivilegiert, und verglichen mit ihm waren alle anderen Leute nur arme Teufel.

Eine Randbemerkung. Daß Goethe auf seiner Italienreise mehr gesehen hat als fast alle anderen, die heute fünfmal um den Erdball reisen, wäre freilich einen eigenen Vortrag wert.

Werner von Siemens in seinen Lebenserinnerungen über die Zeit um 1820: … Es gab damals in dem Jahrhunderte lang durch zahllose Kriege verwüsteten und verarmten Lande keinen wohlhabenden Bürgerstand mehr, der durch Bildung und Vermögen dem Militärstande das Gleichgewicht hätte halten können. … War es aber vorher besser? Mittelalterliche Handschriften bezeugen, daß die Bewohner des Gebietes, das sich heute Deutschland nennt, von den Bewohnern im Süden und Westen Europas schon durch ihre armselige Kleidung abstachen. – Das holländische Schimpfwort für Deutsche „Moffe“, Deutschland „Moffrika“, hat historische Wurzeln: die armen Deutschen haben bei ihren reicheren westlichen Nachbarn niedrige Dienstbotenarbeiten verrichtet, deutsche Gastarbeiter.

In Rüdiger Safranskis lesenswertem und hochgelobtem Buch Romantik, eine deutsche Affäre wird man freilich wenig darüber finden, aber das muß auch nicht sein.

1840. Es wurde fast nichts produziert, auch das eine Folge des Dreißigjährigen Krieges, und das wenige in Deutschland hergestellte taugte nichts. Und noch 1876 schreibt Geheimrat Reuleaux an den preußischen Handelsminister über seine Eindrücke von deutschen Erzeugnissen auf der Weltausstellung in Philadelphia: Billig und schlecht! Nur 130 Jahre ist das her. Made in Germany. Damals das Markenzeichen für Schund und Minderwertigkeit, den deutschen Erzeugnissen als Kainsmal aufgeprägt.
Im Geschichtsbild, das unsere Schulen vermitteln, wenn sie überhaupt eines vermitteln, ist von der Misere nichts zu finden und erfahren, in der dieses Land Jahrhunderte lang leben mußte und aus der es erst eine entwickelte Technik erlöst hat. Freilich, intellektuelle Schwätzer, die tagaus, tagein in den Medien gegen Technik und Technik als Gefahr für die Umwelt zu Felde ziehen, sind unbeeindruckt; Ideologen sind durch Tatsachen nicht zu beeindrucken.

Ab 1880 bessert sich die Lage Deutschlands (des Deutschen Reiches) entscheidend. In weniger als 4 Jahrzehnten steigt Deutschland zu einer der führenden Ländern in Naturwissenschaft und Technik auf. Sogar Angelsachsen mußten sich Kenntnisse der deutschen Sprache aneignen, wollten sie sich über die neuesten Forschungsergebnisse in Physik, Chemie u.a. informieren. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wird Deutsch in Großbritannien mit Abstand die wichtigste Fremdsprache. Und dann? Alles verspielt! Durch politische und militärische Dummheit Deutschlands. Das wird hier übergangen.

Etwas von der damals leuchtenden Flamme in Wissenschaft und Technik ist als glimmende Kohle hinübergerettet worden in unsere Zeit. Die Kunst der Ingenieure im Maschinenbau, in der Medizintechnik und an anderen Orten vollbringt wieder kleine Wunder. Davon lebt dieses Land und kann seine Einfuhren bezahlen.

Nun ist das hier aber keine Sonntagsrede zur allgemeinen Erbauung. Dergleichen gibt es mehr als genug.

Eines der wichtigsten Probleme ist die Versorgung mit Energie. Unzureichende Energieversorgung für einen Industriestandort, der über wenig Ressourcen verfügt, wird sich zur aktuellen Bedrohung anwachsen und unabsehbare und weitaus schlimmere Folgen für das Land haben als das sich ändernde Weltklima. Das sind ganz triviale Einsichten.

Vor 13 Jahren, 1994, hielt hier in Hamburg, im Kongreßzentrum, die altehrwürdige Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte ihre Jahrestagung ab. Alexander von Humboldt hatte 1828 die erste Tagung in Berlin einberufen, Goethe ein Grußwort geschrieben, der Mathematiker Gauß hatte auf Einladung Humboldts auch teilgenommen. Nur nebenbei, die deutsche Wissenschaft verdankt Alexander von Humboldt unendlich viel. Köln 1908, auf der Jahrestagung der Gesellschaft stellte Hermann Minkowski seine epochemachende neue Mathematik der speziellen Relativitätstheorie Einsteins vor.

Aus der Fülle der interessanten Hamburger Vorträge vor 13 Jahren ragte einer hervor.

Das Fraunhofer-Institut in Freiburg präsentierte die Ergebnisse zu seinem „Solarhaus“, ein speziell konstruiertes Wohnhaus für ein hochinteressantes Experiment. Das Haus war nur an die städtische Wasserversorgung angeschlossen. Vorgabe: Herauszufinden, ob man in unseren Breiten, im begünstigten Klima Freiburgs, allein von der auf das Haus treffenden Strahlungsenergie der Sonne leben könne und zwar ohne große Einbuße am gewohnten Lebensstandard. Das Ergebnis war sensationell. In Freiburg geht es: Es gab Warmwasser, elektrisches Licht, Radio, Fernsehen. Gekocht wurde auf der Flamme katalytisch verbrannten Wasserstoffs. Der Wasserstoff wurde durch Elektrolyse mit Solarstrom gewonnen, Wasserstoff als Energiespeicher im Kleinen. Lediglich an kalten Februartagen mußte man sich mit Raumtemperaturen von 17-18°C abfinden. Die katalytische Verbrennung des Wasserstoffs war damals noch ein Schwachpunkt, das Haus war im Experimentierstadium aber von einem Dipl.-Ing., einem Angehörigen des Fraunhofer-Instituts, bewohnt, der, falls notwendig, eingreifen konnte. Sogar ein kleines Auto ließ sich mit gespeicherter Solarenergie betreiben, und für Stadtfahrten reichte das völlig aus. Die Materialkosten für die Einrichtung des Experimentierhauses sollen sich auf unter 1 Million DM belaufen haben. Für die Serienfertigung rechnete man mit Kosten von unter 300 000 DM.

So sensationell die Ergebnisse und so wichtig für ein Land wie Deutschland waren, das Echo war Null, kein öffentliches Interesse.

Heute ist alles ins Gegenteil umgeschlagen, der gegenwärtige Zustand Deutschlands geprägt durch Ideologie, grassierende Umwelthysterie und Größenwahn, schon wieder! Mit grotesken, lächerlichen Übertreibungen wird eine im Prinzip gute Sache völlig in Mißkredit gebracht. Irgendwelche Leute, als Wissenschaftler firmierend, prophezeien für Deutschland in Zukunft abwechselnd entweder arktische Kälte oder das Klima der Sahara, je nachdem, ob es ein paar Wochen etwas kälter oder heißer war. So kommt das Ansehen der Wissenschaft auf den Hund! Was Deutschlands Größe und Bedeutung für die Welt betrifft, so scheint unser Land in der gefühlten, illusionären Empfindung mancher seiner Bewohner vom Nordpol bis zum Äquator zu reichen, mindestens. Da wird schon ohne alle Ironie empfohlen, nur solche Speisen zuzubereiten, die nur geringe Kochzeiten erfordern, als Beitrag zur Verminderung der globalen Erwärmung. Dabei ist alles, was hier passiert, marginal für die Welt und erst recht für das Weltklima. Mit größter Skepsis vernimmt man, wir seien jetzt das Vorbild für die Welt. Wieder einmal! Den Alten und Erfahrenen unter uns graut bei dieser Vorstellung. Die Welt will kaum und schon gar nicht von uns belehrt werden. Europa jedenfalls will nicht am deutschen Wesen genesen, zu ihm bekehrt werden. Nie mehr! Zweimal war es versucht worden und war jedesmal jämmerlich gescheitert. Alles vergessen bei uns, das historische Gedächtnis ausgelöscht wie bei den Lotophagen. Und selbst wenn unser Land mit allen seinen Bewohnern und allem, was darauf ist wie durch Zauberhand verschwände – wenn das Straßennetz bliebe, wären die meisten Europäer nicht ganz unglücklich darüber – das Weltklima bliebe vom Verschwinden Deutschlands völlig unbeeindruckt. Und die über 80 Millionen verschwundenen Deutschen sind nach einem Jahr leicht wieder ersetzt, so schnell nimmt die Weltbevölkerung zu. Eh‘ noch die Auswirkungen von Klimaänderungen sich wirklich ernsthaft bei uns bemerkbar machen, wird schon längst die Überbevölkerung der Erde den Kontinent in den Würgegriff genommen haben.

„Deutschland hat die besten Medien der Welt“ war vor einiger Zeit zu lesen. Sehr schön! Da tut es gut, im Bewußtsein unserer Überlegenheit über die Grenze zu blicken zu den nicht so guten Medieneinrichtungen der anderen. Al Gores Einsatz für den Klimaschutz und seine Aufrufe zur Einsparung von Energie hat das Time-Magazin trocken so kommentiert: Al Gore verbraucht allein in seinem Landhaus in Tennessee 20mal mehr Strom als der Haushalt eines Durchschnittsamerikaners.

Doch in Deutschland zeigen mediale Inszenierungen Wirkung. Die oft im Bild vorgeführten Wasserdampf ausstoßenden Kühltürme von Kernkraftwerken werden als umweltverpestende Dreckschleudern kriminalisiert. Sagen Umfragen die Wahrheit, dann fordern gegenwärtig über zwei Drittel der deutschen Bevölkerung die möglichst sofortige Abschaltung der Kohle- und Atomkraftwerke. Wenn das stimmt, kann man kein Zutrauen haben in den naturwissenschaftlichen und technischen Sachverstand und, weit schlimmer noch, in den Realitätssinn des größeren Teils unserer Bevölkerung. Manche Politiker, die wiedergewählt werden wollen, wissen das sehr wohl und handeln entsprechend. Hinweg aus Deutschland mit dem Kernkraftwerk, dieser modernen Hexe, dafür Windräder und anderes her, und mit ihnen zurück in die heile Welt der Romantik, die vermeintlich heile! Man möchte um Nüchternheit beten. Schlimm für ein Land, das sich als führend in Wissenschaft und Technik ansieht. Die rationaler denkenden Völker Europas haben dafür nur Spott und leise Verachtung, äußern sich aber aus diplomatischen Gründen nur hinter vorgehaltener Hand. Schon sind einzelne Stimmen zu hören, mit einem Volk, das in der Mehrzahl so irrational denkt und fühlt, kann man wissenschaftlich und technisch nicht zusammenarbeiten. Aber egal, wie woanders gedacht und gehandelt wird, hier im Lande gilt: Die Hexe wird verbrannt!

Würde die Bahn die Lokomotiven ihrer Züge allein mit Windstrom betreiben, bräche der gesamte Bahnverkehr zusammen. Alle Windräder zusammen können im Industrieland Deutschland kein einziges konventionelles Kraftwerk ersetzen, wenn das äußerst schwierige Problem der Energiespeicherung im Großen nicht befriedigend gelöst wird. Darüber hört man kaum etwas, von der Politik schon gar nicht. Gegen die Gesetze der Physik kann niemand regieren, nicht einmal mit einer 2/3 Mehrheit im Parlament.

Prognosen eines Naturwissenschaftlers für die Zukunft? Wer würde das wagen? So gut wie alle Zukunftsszenarien in den Science fiction-Büchern – früher hießen sie schlicht und einfach „Zukunftsromane“ – haben sich als Trugschlüsse erwiesen. Das Orakel von Delphi hätte es wahrscheinlich besser gekonnt. Aber manches stimmte doch. In seinem Roman „Mondtraum“, dem Somnium von 1610, beschreibt Johannes Kepler den Raketenflug von der Erde zum Mond physikalisch völlig richtig. Freilich, wer kann schon Kepler das Wasser reichen?

Wer hätte vor 20 Jahren daran gedacht oder gewagt, den beispiellosen Erfolgszug des Mobilfunksystems vorauszusagen? Oder das Internet? 1990 noch in den Anfängen steckend, hätte kaum jemand auch nur im entferntesten sich vorstellen können, welche Bedeutung dieses Weltnetz in kurzer Zeit erreichen würde. Der MP-3-Spieler vor 25 Jahren erfunden, von der Industrie ignoriert, plötzlich aus der Versenkung hervorgeholt und heute laufen sogar die Kinder damit herum.
Nanotechnologie, noch so ein Gebiet.

Aber etwas war gültig in der Vergangenheit und ist erst recht gültig in der Gegenwart, und wie an einem Leitseil geführt, kann man sich an ihm aus der Gegenwart in die Zukunft tasten.

Dazu noch einmal Werner von Siemens, Kaiser Friedrich III. hatte ihn geadelt, Emil Du Bois-Reymond ihn einen Fürsten der Technik genannt. 1891, am Ende seines Lebens bekennt von Siemens:
… alle meine mir freibleibende Zeit habe ich meinen Lieblingswissenschaften Mathematik, Physik und Chemie gewidmet. Die Liebe zu diesen Wissenschaften ist mir mein ganzes Leben hindurch treu geblieben und bildet die Grundlage meiner späteren Erfolge.

Siemens Worte über die Bedeutung der Mathematik in der Technik waren prophetisch. Heute hört sich das so an.

Vor etwa 20 Jahren, 1984, erhält die US-Regierung vom Nationalen Forschungsrat der USA eine Denkschrift. Titel: „Erneuerung der US-Mathematik“. Der Bericht, kurz David-Report genannt, liest sich wie ein Führer durch die moderne Technik.

Mit Hilfe der Mathematik wurden erreicht:

  • Die Entdeckung neuer Öllagerstätten durch Anwendung der Wiener-Theorie auf die Filterung seismischer Signale.
  • Steuerung und Regelung der Raumflugkörper, z.B. des gesamten Apolloflugprogramms, mit Hilfe der Kalmanschen Filtertheorie.
  • Entwurf neuer energiesparender Flugzeugtypen, wie etwa der neuen Boeing, durch neue mathematische Methoden, die die Möglichkeit boten, nichtlineare partielle Differentialgleichungen effizient numerisch zu lösen, insbesondere im kritischen Bereich vom Unterschall zu Überschall.
  • Auch die Entwicklung der Computer wäre ohne den vollen Einsatz mathematischer Methoden nicht möglich gewesen.

Mehr als vier Nobelpreise verdanken die USA Forschungsresultaten, die ausschließlich durch Mathematik erhalten wurden. Inzwischen sind es noch mehr geworden.
Im Bericht geht es so Seite für Seite weiter. Schließlich faßt die Kommission ihre Erkenntnisse in das inhaltsschwere „Hochtechnologie ist mathematische Technologie“.

Die schnellen Rechenautomaten haben es möglich gemacht, Beziehungen zwischen Zahlen schnell aufzulösen. Numerische Simulation nennt es der Fachmann; man versteht darunter die explizite Lösung mathematischer Gleichungen und ihre Umsetzung in Bilder auf Rechnern nach den Gesetzen der Darstellenden Geometrie, von immenser Bedeutung für die moderne Wirtschaft, für Schlüsselindustrien wie den Automobil- und Flugzeugbau, die Raumfahrt, die Elektro- und Chemieindustrie. Fortschritte in der industriellen Produktion und Forschung sind ohne numerische Simulation nicht mehr vorstellbar.

Die früher notwendigen und kostspieligen Versuchreihen können heute entfallen, Energie und Material wird gespart, die Umwelt geschont. Neue Flugzeuge wie der A 380, eine aerodynamisch vorzügliche gelungene Maschine, werden heute vollständig mit Mathematik und Physik im Rechner entworfen. Teure Versuchreihen im Windkanal lassen sich heute auf ein Minimum reduzieren.

Die Mathematisierung in den Ingenieurwissenschaften, in den Naturwissenschaften nimmt unaufhörlich zu und hat inzwischen, früher kaum vorstellbar, alle Lebensbereiche durchdrungen. Die Enthüllung der Büste von Carl Friedrich Gauß in der Walhalla bei Regensburg, der deutschen Ruhmeshalle, im September d.J.: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sieht darin das Symbol einer Leitkultur.

Der ehemalige Vorsitzende des Vorstandes der Volkswagen AG Wolfsburg, Pischetsrieder, und der Vorsitzende des Vorstands der Allianz AG Deutschland, Rupprecht, schreiben in ihrem gerade versandten Rundbrief „Initiative der Wirtschaft zum Jahr der Mathematik 2008“ … Die Bedeutung… mathematischer Methoden wird in der Öffentlichkeit deswegen unterschätzt, weil sie meist nicht sichtbar hinter vielen technischen und wirtschaftlichen Anwendungen steht. …

Im Automobilbau wird heute Mathematik auf sämtlichen Konstruktionsebenen bis hin zur Crash-Simulation eingesetzt. Die Autos werden zwar von Robotern montiert, aber im Rechner entworfen. Die japanische Kraftfahrzeugindustrie hatte damit schon vor Jahrzehnten Erfolg und Entwicklungszeit, Entwicklungskosten erheblich reduzieren können. Die europäische Fahrzeugindustrie ist später gefolgt. Fahrwerksimulationen bei Kraftfahrzeugen laufen so ab. Ein Kraftfahrzeug wird in einem mathematischen Koordinatengerüst für 56 Variable entworfen. Die Bewegungen von Vorderachse und Hinterachse, der Reifen, des Motorblocks, des Schwerpunktes etc.: für jede dieser Bewegungen steht eine Variable als Funktion der Zeit. 56 zeitvariable Größen am Auto, die über Gesetze der Mechanik in (differentiellen) Beziehungen zueinander stehen. Mit weniger Variablen geht es nicht, mehr wären besser. Eisglätte, Bodenunebenheiten, Federstärken, Lenkungsfehler, Reifengüte, Motorkraft u.a. werden als Parameter eingegeben. Wir sehen uns dazu einen Film an. Das virtuelle Auto wird auf eine Teststrecke geschickt. Ein virtueller Fahrer bedient Lenkrad, Gaspedal, Bremsen und versucht, möglichst schnell die Testrunden zu absolvieren. Man sieht das fahrende Auto auf dem Bildschirm, doch dieses Auto ist nur das visuelle Abbild der Lösungen eines Systems von 56 Differentialgleichungen in einem 56-dimensionalen Lösungsraum. Auf Eisplatten kommt dieses virtuelle Auto ins Rutschen, bei falscher Bremsung schleudert es, fliegt aus der Kurve. Das Auto auf dem Bildschirm verhält sich getreu wie ein wirkliches Auto auf einer Teststrecke.

Leben der Sonne

Sterne werden wie wir selbst geboren. Im Orionnebel blicken wir in eine der Werkstätten der Schöpfung; dort sind gerade neue Sterne, neue Sonnen, erschaffen worden. Sterne sind aber auch sterblich – wie wir selbst. Große Sterne explodieren am Ende ihres Lebens mit unvorstellbarer Gewalt in gleißender Lichtfülle. Die vom Explosionsherd ausgehenden Schockwellen rasen für Jahrtausende durch das Weltall, verdichten dort vorhandene Materie und leiten die Geburt neuer Sterne ein. Auch die Sonne, die Erde, verdanken mit großer Wahrscheinlichkeit ihr Leben der Explosion eines Riesensterns, die vor unendlichen Zeiten stattgefunden hat. – Im Sternbild des Orion sehen wir einen sterbenden Stern, eine sterbende Sonne, die Beteigeuze.

Kein Stern ist uns so wichtig wie die Sonne. Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke läßt Goethe im Faust den Erzengel Raphael die Sonne preisen.

Tief im Sonneninnern wird Wasserstoff zu Helium „verbrannt“, dabei entsteht Energie in Form kurzwelliger Röntgenstrahlung; auf dem langen, Jahrmillionen dauernden Weg zur Sonnenoberfläche wird sie in Licht und Wärme umgewandelt. In jeder Sekunde lösen sich 4 Millionen Tonnen Materie in Strahlung auf, und in jeder Sekunde wird die Sonne um 4 Millionen Tonnen leichter. Aber die Sonne ist so riesig, selbst nach Milliarden Jahren ist der Verlust für sie ganz klein. Der nach außen wirkende Gasdruck und die nach innen ziehende Gravitationskraft halten die Sonne im stabilen Gleichgewicht.

Die Sonne: Ein gigantischer, aus ionisiertem Wasserstoff und Helium bestehender, frei im Raum schwebender und sich selbst regulierender Kernfusionsreaktor, der von seiner eigenen Schwerkraft zusammengehalten wird.

Das Leben eines Sterns läßt sich durch ein System von partiellen Differentialgleichungen beschreiben und die Lösungen Druck, Temperatur, Leuchtkraft, Masse, chemische Häufigkeiten usw. als Funktionen von Ort und Zeit berechnet, beschreiben das Leben der Sonne.

Wir lösen die zugehörigen Differentialgleichungen für die Sonne. Ein hochnichtlineares System von partiellen Differentialgleichungen vom parabolischen Typus, vollständig hingeschrieben füllen sie mehrere Seiten. Es ist ein freies Randwertproblem mit 3 freien (beweglichen) Rändern. Das Leben der Sonne, vom Zünden der Kernfusion vor etwa viereinhalb Milliarden Jahren bis zu ihrem Ende in etwa siebeneinhalb Milliarden Jahren, im Rechner gesehen.

Leben wird die Erde noch eineinhalb Milliarden Jahre tragen können, eine unendlich lange Zeit, dann wird es auf ihr so heiß, daß die Weltmeere verdampfen. Die Sonne wird aber noch weitere 6 Milliarden Jahre leuchten, vor ihrem Ende wird sie sich zu einem rötlich leuchtenden Riesenstern ausdehnen, der, von der Erde aus gesehen, fast den halben Himmel einnehmen und so groß wie die Merkurbahn sein wird.

Die Sonne wird dann in rascher Folge ihre Gashülle abstoßen, sich zusammenziehen, sich wieder ausdehnen, erneut Gasmassen abstoßen … , ein planetarer Gasnebel bildet sich, der bald im Weltraum entschwindet und einen winzigen, aber sehr schweren, langsam verlöschenden Zwergstern zurückläßt. Ein Kubikzentimeter Materie von ihm wiegt etwa ½ Tonne.
Das Leben der Sonne im Film. Der Film komprimiert die 12 Milliarden Lebensjahre der Sonne auf wenige Minuten. Das Leben eines hundertjährigen Menschen dauert gerade 1 Millionstel Sekunde.

Sind aber 12 Milliarden Jahre vorstellbar? Die Länge von Zeitintervallen messen wir an unserer eigenen Lebenszeit. Aber von da führt kein Weg zum Begreifen von einer Million Jahren, geschweige einer Milliarde Jahren.

Längen von Strecken können wir uns vorstellen. Setzen wir 1 Milliarde Jahre gleich einem Kilometer, dann „lebt“ die Sonne 12 Kilometer. Vom Zünden der Kernfusion im Innern der Sonne bis heute sind es etwa 4½ Kilometer, 4½ Milliarden Jahre sind vergangen. Die Dinosaurier lebten vor etwa 60 Metern, 60 Millionen Jahren. Die Evolution der, sagen wir salopp, affenartigen Lebewesen, zu denen wir auch zählen, dauerte 12 m; 12 Millionen Jahre. Von Christi Geburt bis heute sind es 2 mm, 2000 Jahre. Das Leben eines hundertjährigen Menschen ist in dieser Skala nur 1/10 mm lang, die Dicke eines Papierblattes. Und wenn die menschliche Rasse Glück hat, sehr viel Glück hat, dann geht es mit ihr noch einen Meter weiter, eine Million Jahre. Aber die Sonne wird noch 7 ½ km lang 7 ½ Milliarden Jahre lang weiterbrennen und ihre Planeten werden sie dabei umkreisen.

Von seiner Winzigkeit aus, jenem 1/10 mm, versucht also das Papierblatt, das sind wir, die 12 km, die für uns unfaßbar lange Lebensdauer der Sonne zu denken. Von 1/10 mm ausgehend 12 km zu begreifen.

Wäre die Sonne nur wenig größer, würde sie, die Lösungen der mathematischen Gleichungen zeigen es, so schnell brennen, daß sich gar kein Leben auf einem Planeten entwickeln könnte. Bei nur 20% grös-serem Durchmesser, nicht viel also, wäre schon nach 1 Milliarde Jahren alles vorbei. Und erst, wenn die Sonne zehnmal so viel Masse hätte, schon nach ein paar Millionen Jahren – Millionen, nicht Milliarden – wäre aller Brennstoff der Sonne verpufft. Wäre die Sonne kleiner, wäre es besser, aber sie würde jetzt nicht heiß genug sein und die Planeten müßten sie dichter umkreisen, wären dann intensiver (Röntgen)Strahlung ausgesetzt und mächtige Gezeiten würden auf ihnen toben, für das Leben höchst gefährlich, es hätte sich gar nicht entwickeln können.

Warum können wir so weit schauen?

Carl Friedrich von Weizsäcker, Philosoph und Physiker, der alte weise Mann, wußte um die Macht der Mathematik: Die in deduktiver Abfolge gewonnenen Einsichten der Mathematik sind zeitlos gültig. Sie sind im Zeitlichen Abbilder der Ewigkeit.